Das Wertequadrat in der Tradition nach Hartmann (1882-1950), Helwig (1893-1963) und Schulz von Thun (1944) zeigt, dass es zu jeder menschlichen Qualität (Sparsamkeit) eine notwendige Gegenqualität oder Schwester-Tugend gibt (Großzügigkeit). Beide Tugenden müssen in dynamischer Balance gehalten werden, um nicht in eine einseitige Überkompensation zu kommen.
Inhalt
Wertequadrat Beispiel: Sparsamkeit vs. Großzügigkeit
Wir beginnen beim Urbeispiel von Helwig und der Tugend Sparsamkeit. Wer es mit der Sparsamkeit übertreibt, wird schnell zum Geizhals. Deshalb braucht es neben der Sparsamkeit, die Schwester-Tugend Großzügigkeit, um einseitige Überkompensation zu vermeiden. Genauso braucht der Großzügige Sparsamkeit, um sich nicht in Verschwendung zu verlieren.
Wertequadrat Beispiel: strukturiert vs. kreativ
Ein weiteres Beispiel ist die Tugend Strukturiertheit und die Schwester-Tugend Kreativität. Normalerweise werden die Strukturierten und die Kreativen schön voneinander getrennt, weil die ja nicht miteinander können. Das Wertequadrat zeigt jedoch, dass es neben Strukturiertheit auch Kreativität braucht, um kein Pedant zu werden. Genauso braucht der Kreative einen Schuss Struktur, um kein Chaot zu werden.
Wertequadrat Beispiel: zentral vs. dezentral
Eine fast schon unendliche Diskussion in großen Unternehmen ist das Verhältnis von zentral vs. dezentral. Lieber mehr Steuerung aus der Zentrale oder mehr Eigenständigkeit für die Standorte? Das Wertequadrat zeigt, ein zu starkes eingreifen der Zentrale kann schnell als Überwachung wahrgenommen werden. Hier gibt es fast immer den Reflex wieder mehr auf die Unabhängigkeit der Standorte zu bestehen, bis hin zur Vernachlässigung. Um die beiden Werte oder Tugenden wieder auszubalancieren.
Wertequadrat nach Schulz von Thun
Schulz von Thun hat das Wertequadrat 1989 für die Belange der zwischenmenschlichen Kommunikation genutzt und mit einem Entwicklungsgedanken verbunden. Hier zum reinhören ins Werte- und Entwicklungsquadrat nach Schulz von Thun:
Das Buch Kommunikation als Lebenskunst, dass im Dialog zwischen Bernhard Pörksen und Schulz von Thun entstanden ist, hat mir weitere wichtige Einsichten zum Wertequadrat geliefert:
- Das Geheimnis des glückenden Lebens liegt in der Koexistenz und der Integration von polaren Gegensätzen, die logisch unvereinbar erscheinen mögen.
- Es geht um die dynamische Balance, die aus der Verbindung des Unterschiedlichen eine dritte Qualität entstehen lässt, eine Regenbogenqualität (Regen und Sonnenschein).
- Im Konzept der dynamischen Balance sind die Ausschläge in die eine oder andere Richtung durchaus schon als Ideal mitgedacht.
- Nach Helwig ist jeder Wert nur in ausgehaltener Spannung zu seinem positiven Gegenwert ein wirklicher Wert. Kein Wert ist an sich allein schon, was er sein soll. Er wird es erst durch Einbeziehen des positiven Grundwertes.
- Nach Schulz von Thun geht das Wertequadrat auf den Berliner Philosophen Nicolai Hartmann (1882-1950) zurück, dessen Student Helwig war, jedoch seine Quelle nicht angegeben hat. Der Grundgedanke des Modells lässt sich nach Wikipedia auf Aristoteles zurückzuführen.
Die historischen Wurzeln bei Aristoteles
Wenn Schulz von Thun, Helwig oder Hartmann vom Wertequadrat sprechen, stehen sie auf den Schultern von Riesen. Einer dieser Riesen ist Aristoteles (384-322 v. Chr.). Folgende Punkte aus der Tugendethik des Aristoteles halte ich in diesem Zusammenhang für wichtig (S. 252-264):
- Für Aristoteles ist die wichtigste Voraussetzung, um Lebensglück zu erlagen, ein guter Charakter. Einen guten Charakter hat man dann, wenn man möglichst viele Tugenden (aretai) besitzt.
- Ein ethisches Leben zu führen, bedeutet demnach die ständige Arbeit an sich selbst (..). Seine Charaktertugenden wie Tapferkeit, Besonnenheit, Freigiebigkeit und Hochherzigkeit und seine Vernunfttugenden wie Klugheit, Weisheit und Gerechtigkeit sind voll entwickelt und befinden sich in Einklang miteinander.
- Tugenden sind niemals absolut, sondern immer graduell. (..) Freigiebigkeit ist ohne Zweifel eine gute Sache, aber zu freigiebig zu sein macht mich zum leichtsinnigen Verschwender.
- Bei den Tugenden kommt es also auf das richtige Maß an. Denn alle edlen und weniger edlen Charakterzüge bestehen nur relativ. So liegt die Freigiebigkeit irgendwo in der Mitte (mesotes) zwischen den Lastern Geiz und Verschwendungssucht. (..) Tugenden sind keine Pole, sondern Mittelwerte.
- Die Lebensklugheit (phronesis) ist die wichtigste aller Tugenden. Dadurch verschwindet (..) das Statusdenken zugunsten einer psychologischen (..) Selbstsicherheit.
- Es gibt nichts Gutes, außer man tut es! (..) Nur zu wissen macht nicht menschlich!
Das Wertequadrat in der Führung
Bernhard Possert hat mit Unterstützung von Johannes Zollner das Wertequadrat auf die Führungsstile nach Kurt Lewin umgelegt:




Linke oben ist der Pferdeflüsterer abgebildet, vermutlich mit dem kooperativen oder karitativen Führungsstil gleichzusetzen. Wer es hier übertreibt muss den Pferden, links unten, nur noch den Dreck hinterher putzen. Rechts oben treibt der Kutscher die Pferde an, vermutlich eine abgeschwächte Form des autoritären Führungsstiles, die dazu abdriften kann, rechts unten, die Peitsch zu schwingen.
Auch wenn mir der Vergleich von Mitarbeitern und Pferden nicht gefällt, finde ich die Umlegung auf das Wertequadrat durch Bernhard Possert durchaus innovativ. Die Aussage ist auch klar, wer zu viel Verständnis zeigt, läuft Gefahr ausgenutzt zu werden. Als Reaktion darauf braucht es wieder mehr Klarheit und Ansage, aber ja nicht zu viel des Gegenmittels.
Praktische Anwendung und Quiz
Neben der Diskussion rund um Führungsstile kann das Wertequadrat als praktisches Tool dienen, um Konfliktgespräche professionell zu führen. Überlege dir welche Qualität, Tugend oder Eigenschaft dich an der Person aufregt, z.B. der verschwenderische Umgang mit Geld oder die chaotische Arbeitsweise.
Das Wertequadrat zeigt nun auf, welche Schwestertugend zu stärken bzw. zu entwickeln ist. In einem Fall die Sparsamkeit. Im anderen Fall die Strukturiertheit. So kann im Konfliktgespräch eine konkrete Entwicklungsrichtung aufgezeigt werden.
Auf Organisationsebene ist das Wertequadrat ebenfalls nützlich, um die Diskussionen zwischen zentral vs. dezentral besser einordnen zu können. So verwundert es nicht, dass das Pendel mal in Richtung zentral ausschlägt, mal in Richtung dezentral. Je nachdem wie weit man es in eine Richtung übertrieben hat.
Manche Organisationen haben hingegen eine Vorliebe, für die eine oder andere Seite quasi in ihrer DNA integriert. Hierbei sind einseitige Übertreibungen sogar erwünscht. Vom zentral geführten Überwachungskonzern, bis hin zum dezentral geführten Idealbild des Biotops.
Fazit: Wertequadrat
Das Wertequadrat nach Hartmann, später Helwig, wurde durch Schulz von Thun als Werte- und Entwicklungsquadrat einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Deshalb empfehle ich zur weiteren Vertiefung den Sammelband Miteinander reden von Schulz von Thun, der viele weitere Instrumente liefert.
Ziel ist es nicht die goldene Mitte zu erreichen, also eine perfekte Mischung zwischen 50% Sparsamkeit und 50% Großzügigkeit oder Struktur und Kreativität. Ziel ist es die Tugenden in dynamischer Balance zu halten. Das kann in einem Fall maximal Sparsamkeit sein, im anderen Fall maximale Großzügigkeit.
Dr. Patrick Fritz
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