Was ist Agilität? Am 6. Juni 2007 hatte ich im Rahmen des Führungskreis Softwareentwicklung das erste Mal Kontakt mit der agilen Welt. Der Vortrag von Dr. Andreas Wintersteiger hatte den Titel „Agile Project Management with SCRUM“. Seit damals habe ich weit über 100 Vorträge zum Thema Agilität gehört und frage mich inzwischen, worum es hier eigentlich noch geht.
Was damals als moderne Projektmanagement-Methode klar verortet war, ist heute zu einem Modebegriff geworden, der für ALLES und NICHTS steht. Wer heute nicht agil (und digital) ist, der gehört einfach nicht mehr dazu. Mich persönlich nervt das eigentlich nur noch, wenn man nicht sagen kann, was man damit meint. Inzwischen habe ich jedoch ein Muster entdeckt, von dem ich euch erzählen möchte.
Was ist Agilität für Fachberater?
Wenn man Vorträge von Fachberatern hört, dann ist Agilität im Kern eine Methode. Anders gesagt, wer die Methode anwendet ist agil. Vielen Software-Entwicklungsteams haben mit SCRUM ihre Reise in die agile Welt gestartet – als eine von mehreren möglichen agilen Methoden. Dazu habe ich bereits des Öfteren geschrieben: hier, hier und hier.
Da SCRUM besonders cool war (und ist :-), hat auch selten jemand danach gefragt, ob das denn die richtige Methode für die eigene Arbeit ist. Schließlich hat es in anderen Firmen funktioniert, also muss es auch bei uns funktionieren. Das ein agiles Vorgehensmodell erst Sinn macht, wenn sich min. 30% der definierten Anforderungen pro Monat ändern, wollte (und will) auch niemand so richtig hören. An die Entwicklungsphase der Organisation hat dabei noch gar niemand gedacht.
Vor diesem Hintergrund verwundern einen die zahlreichen Unternehmen nicht, in denen SCRUM inzwischen ein Schimpfwort darstellt, in denen ScrumBut zur Tagesordnung gehört und in denen Holacracy ein sehr begrenzter Versuch geblieben ist. Wenn die Fachberater scheitern, schlägt die Stunde der Prozessberater.
Was ist Agilität für Prozessberater?
Für den Prozessberater ist das „richtige“ Verhalten der Führungskräfte der Schlüssel zur Agilität. Deren Verhalten bzw. die tiefer liegende Einstellung hat nämlich einen wesentlich größeren Hebel als es die Methode SCRUM je haben könnte. Um das Verhalten aller Führungskräfte im Unternehmen auszurichten, möchte der Prozessberater am gemeinsamen Führungsverständnis arbeiten, wenn nicht sogar an den gemeinsamen Werten aller Mitarbeiter. Im Fall von SCRUM ist das agile Manifest und die vier zentralen Werte ein wichtiger Nordstern:
Individuen und Interaktionen mehr als Prozesse und Werkzeuge
Funktionierende Software mehr als umfassende Dokumentation
Zusammenarbeit mit dem Kunden mehr als Vertragsverhandlung
Reagieren auf Veränderung mehr als das Befolgen eines Plans
Um die Zauberformel auf den Punkt zu bringen: Wenn wir die „richtigen“ agilen Werte (Anpassung, Flexibilität, Schnelligkeit, Verantwortung usw.) in unserem Leitbild verankert haben, dann ergibt sich Agilität von selbst. Und ohne dass wir es bemerkt haben, sind wir mitten in einem Kulturveränderungs-Projekt.
Was nicht fehlen darf, ist die übliche Story: Der Markt verändert sich immer schneller, deshalb müssen Organisationen anpassungsfähiger werden. So, was bedeutet Agilität nun wirklich? Haben Fachberater oder Prozessberater die richtige Definition von Agilität?
Die Agile Zwiebel bringt Ordnung
Das Modell der Agilen Zwiebel von Simon Powers eignet sich hervorragend, um Ordnung ins Begriffschaos rund um Agilität zu bringen:

Dem Modell zufolge haben sowohl Fachberater als auch Prozessberater zum Teil recht – sie sprechen nur auf unterschiedlichen Ebenen. Powers zufolge kann Agilität nämlich auf mindestens drei Ebenen verstanden werden:
- Agile Tools und Prozesse: Das berühmteste agile Tool ist mit Sicherheit das SCRUM-Board. Im Prinzip nichts anderes wie eine Visualisierung von Arbeit. Der erste Schritt in die Agilität ist fast immer eine Visualisierung der Arbeit auf einem Board.
- Agile Methoden: Die berühmteste agile Methode ist mit Sicherheit SCRUM. SCRUM ist aber genauso sicher nicht die einzige agile Methode: Kanban, Design Thinking, Design Sprint, Business Model Canvas, Effectuation, Holacracy, Lean Startup usw.
- Agile Prinzipien und Werte: Wie das Modell der agilen Zwiebel zeigt, beruhen Agile Tools und Methoden auf gemeinsamen Prinzipien und Werten. Diese Prinzipien und Werte wurden 2001 von 17 Erstunterzeichnern als Agiles Manifest formuliert.
Agilität als rhetorisches Mittel
Unabhängig vom Versuch den Begriff der Agilität (wieder und wieder) genauer bestimmten zu wollen, sehen Kühl und Richter die Unbestimmtheit des Begriffs auch als große Chance: „Das schafft nämlich die Möglichkeit, die positive Kraft des Begriffs Agilität zu nutzen und mit den eigenen notwendigen Veränderungsvorhaben inhaltlich aufzuladen.“ Somit verkommt der Begriff zu einem rhetorischen Mittel, die Aufmerksamkeit der Organisation zu lenken. Damit ist der Weg zum berühmten Bullshit-Bingo nicht mehr weit. Hier schön von Dilbert aufgegriffen:
Fazit
Fachberater sehen nur Schale 1+2 der Agilen Zwiebel – also Tools und Methoden. Prozessberater sehen nur Schale 3+4 der Agilen Zwiebel – also nur Prinzipien und Werte. Beide werten den jeweils anderen ab, weil sie unterschiedliche Dinge verkaufen wollen. Soweit verständlich.
Meiner Meinung braucht es beide Sichtweisen. Allerdings habe ich noch nie erlebt, dass eine sogenannte agile Transition (=Kulturveränderung) von außen nach innen erfolgreich ist. Oder wann hast du dich zuletzt so verhalten wie es im Leitbild beschrieben ist? Das Motto muss lauten: doing and then being agile.
Dr. Patrick Fritz
Danke für den Artikel, Patrick!
JA, Agilität kann man nicht verordnen – Agilität ist der Lohn langer konsequenter Organisationsentwicklungsarbeit.