Wie der Change Management Hype Cycle wunderschön zeigt, gibt es neben Industrie 4.0 und Digitaler Transformation, derzeit kaum ein anderes Thema, das ähnlich stark gehypt wird. Nach Workshops zu den Themen “Digitalisierung im Vertrieb” (Führungskreises Vertrieb), “Marketing-Automation” und „KI im Marketing“ (Führungskreis B2B-Marketing), möchte ich meine Erkenntnisse zu Vertrieb 4.0 teilen und zur Diskussion stellen.

Was ist Vertrieb 4.0 wirklich?
Wie der Gartner Hype Cycle aufzeigt, sind diverse Technologien am reifen, die Fantasie in Marketingbegriffe wie Industrie 4.0, Einkauf 4.0 oder eben Vertrieb 4.0 bringen können: Künstliche Intelligenz (KI), Machine Learning, Cognitive Expert Advisors und Smart Robots. Allen Technologien gemeinsam, ist das Potential, Aufgaben zu automatisieren, die bisher dem Menschen vorbehalten waren. KI wird auch gerne als Versuch beschrieben, um die menschlichen Sinnesorgane zu digitalisieren und damit zu automatisieren. Für Vertrieb und Marketing heißt das ganz konkret, dass Aufgaben im operativen Bereich wegfallen bzw. automatisiert werden können. Marketing-Automation und Chat-Bots versprechen nichts anderes.
Wo stehen wir heute bei Vertrieb 4.0?
Wenn ich in Führungskreisen die Frage stelle, welche Schritte unternehmen die Kollegen um Vertrieb und Marketing zu digitalisieren, kann man die Antworten wie folgt zusammenfassen: Analoge Prozesse digitalisieren und Insellösungen miteinander verbinden . Hier konkrete Beispiele:
- Umstellung von FAX auf EDI.
- Einführung CRM-System und Anbindung ans ERP.
- Datenbasis verbessern bzw. Datenqualität steigern.
Zwischenfazit: Vertrieb 4.0 ist nichts anderes als ein knackiger Platzhalter für das Potential, Aufgaben in Vertrieb und Marketing zu automatisieren. Hier wurden und werden immer wieder zahlreiche Maßnahmen und Projekte gesetzt. Was soll die ganze Diskussion also?
Was ist das Problem für Marketing und Vertrieb?
Wenn man den Propheten der Digitalisierung in Vertrieb und Marketing zuhört, werden zahlreiche Argumente ins Feld geführt, warum sich die Welt ändert und dringender Handlungsbedarf für Unternehmen herrscht. Vertrieb 4.0 eben. Hier eine kritische Bestandsaufnahme der gängigen Argumente:
- Etablierte Kommunikationskanäle brechen weg. Fachmagazine und Messen funktionieren nicht mehr. Was Fachmagazine betrifft stimmt das Argument. Viele Unternehmen verlagern das Budget von Fachmagazinen zu Online-Kanälen. Case Studies, White Papers und Webinars finden dort inzwischen eine breite Leserschaft. Was Messen betrifft, stimmt das Argument nur teilweise. In manchen Branchen funktionieren Messen nach wie vor – in manchen nicht mehr. Der Trend geht zu hochwertigen Inhouse-Veranstaltungen als Alternative. Problem gelöst .
- Persönliche Termine sind immer schwieriger zu bekommen. Gerade junge Kunden informieren sich lieber über Online-Kanäle. Hier muss sicherlich die Erklärungsbedürftigkeit des Produktes berücksichtigt werden. Ich brauche heute kein persönliches Gespräch mit einem Verkäufer, um mich für Spielkonsole, Fotoapparat oder Handy zu entscheiden – vielleicht einen ChatBot. Wenn es um eine neue Produktionsanlage für mein Werk geht, bin ich um persönliche Beratung sehr dankbar. Je nach Produkt ein anderer Verkaufs- bzw. Kommunikationskanal. Problem gelöst.
- Die großen Online-Plattform wie Google, Apple, Facebook und Amazon (GAFA) drängen sich zwischen Unternehmen und den Kunden. GAFA stellt dadurch ein Oligopol des Kundenkontakts her. Amazon fragt bei mir z.B. wiederholt nach, ob ich nicht auf Amazon B2B wechseln möchte. Frei nach Jeff Bezos: „Your margin is my opportunity“. Der Einzelhandel kann ein Lied davon singen. Medien – Netflix. Reisen – Airbnb. Banken – N26. Für die meisten B2B-Unternehmen ist dieses Argument jedoch noch nicht wirklich spürbar. Deshalb gibt es hier auch noch wenige Antworten. Problem ungelöst .
Welche Lösungsoptionen stehen zur Verfügung?
- So weiter wie bisher: Ich gehe davon aus, dass mein Produkt nicht über Online-Plattformen vertrieben werden kann. Also muss ich auch keine Maßnahmen setzen. Diese Option sollte man durchaus in Betracht ziehen und bei dem ganzen Digitalisierungstheater nicht mit machen.
- Digitale Lead Generierung: Mein Produkt kann zwar nicht über Online-Plattformen verkauft werden, aber ich kann diese nutzen, um Kontakte bzw. Leads zu generieren. In der Folge investiere ich in Business Intelligence (z.B. Google Analytics), CRM (z.B. Salesforce), Marketing-Automation (z.B. HubSpot) und weitere Tools (z.B. LivePerson).
- Über fremde Plattform verkaufen: Mein Produkt kann über Online-Plattformen verkauft werden. Also versuche ich auf Plattformen Dritter (z.B. Amazon, eBay usw.) bestmöglich klar zu kommen. Die Kernfrage lautet: Wie komme ich an Position 1 der Suchergebnisse?
- Eigene Plattform aufbauen: Mein Produkt kann über Online-Plattformen verkaufen werden. Also versuche ich eine eigene Plattform = Marktplatz aufzubauen (z.B. Klöckner Stahlhandel). Nicht nur um meine Produkte zu verkaufen, sondern auch die Produkte meiner Mitbewerber.
Fazit – Vertrieb 4.0
Die Digitalisierung analoger Prozesse war, ist und bleibt ein Thema. Hier muss man also keine Panik bekommen, höchstens an der einen oder anderen Stelle Akzente setzen (z.B. Digitale Lead Generierung). Wenn das eigene Produkt jedoch über Online-Plattform verkaufbar ist, und die Möglichkeiten dazu werden vielfältiger, dann sollte man sich wirklich in Acht nehmen. Eine eigene Online-Plattform mit Fremdanbietern aufzubauen ist sicherlich die Königsdisziplin. Das „window of opportunity“ dazu wird jedoch immer kleiner, weil „your margin is my opportunity“.
Dr. Patrick Fritz
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