Systemtheorie ist – immer wieder einmal – der hot shit in Führung und Beratung. Wer sich dabei nicht auskennt, gehört nicht dazu. Da Niklas Luhmann (1927-1998) schrecklich kompliziert zu lesen ist, reicht es auch zu behaupten man kennt sich aus. Ich lese gerade Luhmann leicht gemacht von Margot Berghaus und bekomme dabei immer stärkere Kopfschmerzen! Warum, erfährst du in diesem FRITZ Tipp.
Inhalt
Einführung in die Systemtheorie
Luhmann stellt mit der neueren Systemtheorie ein Modell zur Verfügung, wie biologische, psychische und soziale Systeme unterschieden, betrachtet und erklärt werden können. Wer diese Brille anzieht soll spannende Erkenntnisse beim Blick auf Organisationen als soziale Systeme erhalten.
Die vermeintliche Schockaussage? Soziale Systeme bestehen aus Kommunikation und nicht aus Menschen. Deshalb hat ihm Habermas das „Anti-Humanisten-Label“ verliehen. Im folgenden Video wird der Fokus auf Kommunikation in sozialen Systemen mit einer schönen Animation verdeutlicht:
In meiner Wahrnehmung hat Luhmann wie unter dem Mikroskop den Zoom-Faktor stark erhöht und damit biologische und psychische Systeme als Umwelt sozialer Systeme definiert. Horster folgend hat Luhmann mit dem Begriff „System“ von Biologen und Physikern die Idee der kleinsten Einheiten, etwa der Zellen oder Atome, übernommen. Dabei bildet das Bewusstsein eine Vermittlungsinstanz zwischen Um-Welt und Organisation.
Zudem beschreibt der Kommunikationsbegriff in Luhmanns Systemtheorie etwas anderes als dasjenige, das allgemein unter Kommunikation verstanden wird. Für ihn ist Kommunikation eine Operation sozialer Systeme, sowie Gedanken eine Operation psychischer Systeme sind. Und diese Operationen können ihr System nicht verlassen.
„Die lösungsorientierten Workshops im Führungskreis Vertrieb, welche in einem äußerst vertrauensvollen Umfeld stattfinden, bieten neben praxisorientierter Beratung auch den Austausch mit anderen Unternehmen. Durch Bearbeitung von aktuellen und dem Zeitgeist entsprechenden Themen profitiert man sowohl auf professioneller als auch auf persönlicher Ebene sehr.“
Der Luhmannschen Systemtheorie folgend können damit die Strukturen sozialer Systeme wie Organisation oder Unternehmen, unabhängig von der Psyche ihrer Mitarbeiter analysiert werden. Wer Torsten Groth dazu hören möchte, empfehle ich sein Interview im Rahmen des Good Work Podcast von Minute 23:06 bis 27:45:
Systemtheorie vs Psychologie
Man kann diese Definition von Niklas Luhmann mögen oder nicht mögen (siehe dazu weitere Systemtheorien). Man kann die Kette von Abhängigkeiten vom biologischen zum psychischen und weiter zum sozialen System so sehen oder anders sehen.
Was mir Kopfzerbrechen macht, ist die Interpretation dieser Definition. Und diese lautet überspitzt: Wenn im sozialen System (=Unternehmen) etwas schiefläuft, kann das psychische System (=Mensch) nichts dafür. Mehr noch, der Mensch ist Opfer des gegebenen Kommunikationssystems im Unternehmen.
Um den Gedanken mit der Fußballmetapher von Bartl bzw. Simon zu illustrieren. Wenn das Fußballspiel verloren geht, liegt das nicht an den Unzulänglichkeiten von Messi oder Ronaldo, sondern an den sozialen Spielregeln (Entscheidungsprämissen) der Interaktion innerhalb des Teams. Wenn wir es schaffen die Kommunikationsmuster zu ändern, werden wir auch wieder gewinnen.
Jetzt frage ich mich warum gab die 1. Bundesliga in der Saison 2019/2020 €957,49 Mio. für neues Personal aus? Warum wechseln 17,5% der 2.500 größten börsennotierten Unternehmen der Welt ihre CEOs aus? Sind die den alle blöd und haben die Systemtheorie nach Luhmann nicht verstanden?
Vom Entweder-oder zum Sowohl-als-auch
Ich verstehe den Wunsch nach Entweder-oder Erklärungen. Entweder sind nur die schlechten Spieler für die Niederlage verantwortlich oder nur die Kommunikationsregeln, Abläufe und Regelkreise im Team. Das würde es einfacher machen die Ursache für die Niederlage zu bestimmen und eine Abstellmaßnahme zu definieren. Die systemische Sichtweise kann hilfreich sein, aber eben nicht immer und in jedem Fall.
Ich plädiere stattdessen für ein Sowohl-als-auch. Natürlich kann es einen Mitarbeiter geben, der die Ursache des Problems ist. Schulz von Thun bringt es in Kommunikation als Lebenskunst wie folgt auf den Punkt: „Ich halte es unter allen Umständen für lohnend, sich den individualdiagnostischen Blick zu bewahren und eben nicht jedes Verhalten systemisch zu erklären und dann zu betonen: Gut, da sitzt nun jemand, der nervt. Aber es ist eben seine ihm zugewachsene Rolle im Team, hier den Bösewicht zu spielen“.
Durch einen neuen Spieler können sich Entscheidungsmuster im Team von jetzt auf gleich verändern. König und Vollmer ergänzen: „Sicherlich entwickeln soziale Systeme auf der Basis von Regeln und Regelkreisen des Kommunikationssystems eine Eigendynamik (..). Zugleich sind aber soziale Systeme immer auch Personensysteme (..), die soziale Systeme durch ihr Handeln verändern können“. Die beiden dargestellten Sichtweisen auf soziale Systeme, haben im weiteren Verlauf zu unterschiedlichen Systemtheorien geführt.
Weitere Systemtheorien
Die Systemtheorie ist in den 1940er-Jahren entstanden als Modell zur Erklärung komplexer Situationen, so König und Vollmer. Das übliche Ursache-Wirkungs-Denken, wird dabei von einem Denken in Regelkreisen abgelöst. Neben der Systemtheorie nach Luhmann, gibt es weitere Ansätze innerhalb dieses Forschungszweigs, die wichtig zu erwähnen sind:
- Allgemeine Systemtheorie: Eine Universaldisziplin die Einfluss auf Physik, Astronomie, Biologie und Sozialwissenschaften genommen hat.
- Soziologische Systemtheorie: Für Luhmann sind Personen nicht Teil des sozialen Systems. Stattdessen definiert er Kommunikationsereignisse als Elemente des sozialen Systems.
- Personale Systemtheorie: In der Tradition von Gregory Bateson, werden Personen sehr wohl als Elemente des sozialen Systems verstanden.
Im Unterschied zu technischen Systemen, deuten Personen die jeweilige Situation und Handeln auf Basis dieser Deutung, so Bateson. Aus Regeln und Deutungen der jeweiligen Situation entstehen zirkuläre Strukturen, bei denen sich Verhaltensweisen wechselseitig beeinflussen.
Der Streit ums Nadelöhr zwischen Simon und Kriz
Das vorgeschlagene Sowohl-als-auch Denken hat durch den äußerst kompetenten Kommentar einer geschätzten Leserin, sowie die Lektüre von Der Streit ums Nadelöhr neue Impulse erhalten. Ich zitiere aus einem Dialog zwischen Jürgen Kriz (personenzentrierte Systemtheorie nach Bateson) und Fritz B. Simon (soziologische Systemtheorie nach Luhmann):
- Simon: Organisationen im Allgemeinen über die Psyche der Beteiligten zu erklären, halte ich als Vorhaben für idiotisch (S. 26).
- Simon: In der Hinsicht, finde ich, ist der Ansatz, der auf die sozialen Spielregeln fokussiert und sich um die Psyche der Beteiligten als eine Randbedingung kümmert, praktischer (S. 36).
- Kriz: Ich glaube, dass die Paarbeziehung jeden Einzelnen beeinflusst. Aber die Einzelnen eben, andersherum, auch die Regeln des Paares (S. 41).
- Simon: Das geniale an Organisationen ist ja, dass Leute arbeiten und Dinge tun, für die sie keine intrinsische Motivation brauchen. Sie kriegen Geld dafür, und das ist der Ersatz (S. 44).
- Simon: Mein Eindruck ist allerdings, dass es im systemischen Feld zwei Entwicklung gab bzw. gibt. Die einen kommen von der ursprünglich individuumbezogenen Psychotherapie und haben dann größere interpersonelle Systeme betrachtet: Paare, Familien, Teams (S. 54).
- Simon: Und diese Fokussierung auf Personen funktioniert meines Erachtens gut bis Teamgröße, aber in Bezug auf größere Systeme kommt man mit ihr nicht weit. (..) Der andere Ansatz – der ist eher mit der Luhmannschen Systemtheorie verbunden – beginnt bei der Gesellschaft als soziales System und wird dann (..) heruntergebrochen zu Organisationen und deren Subsystemen. Beide Ansätze treffen sich auf der Teamebene (S. 55).
- Simon: Man darf eigentlich niemanden, der von der Psychotherapie kommt, auf Organisationen loslassen (S. 55).
- Kriz: Völlig klar Psychotherapie und Organisationsberatung unterscheiden sich deutlich (S. 55).
- Simon: Letztlich kommt es darauf an, welche Erklärung ich verwende. Habe ich eine Erklärung, nach der die Psyche der Beteiligten die Spielregeln der Interaktion bestimmt, oder habe ich eine Erklärung, die sagt, dass die Spielregel der Interaktion bestimmen, was in der Psyche der Beteiligten passiert (S. 131).
Wer Fritz B. Simon hören möchte, dem empfehle ich sein Interview im Rahmen des Good Work Podcast von Minute 11:52 bis 17:10:
Der von Kriz und Simon geführte Dialog lässt sich sogar bis in die Antike zu Aristoteles (384-322 v. Chr.) zurückführen. Precht bemerkt: „Wer in einem bestimmten Milieu lebt, wird von dessen Disposition stark geprägt. (..) Vor diesem Hintergrund scheint es (von Aristoteles) überaus progressiv, anzunehmen, dass nicht nur das Milieu den Menschen prägt, sondern dass er sich selbst prägen kann. Aus der fremdbestimmten Disposition des Milieus werden selbstbestimmte Dispositionen des Charakters (S. 260).“
Systemtheorie in der Praxis
Niklas Luhmann und die nachfolgenden Vertreter der soziologischen Systemtheorie, sprechen explizit von einem Erklärungsmodell und nicht von einem Handlungsmodell. Die Systemtheorie liefert also keine pfannenfertigen Handlungsempfehlungen. Wimmer spricht von einem elaborierten Denkinstrumentarium.
Simon versucht mit dem Begriff der strukturellen Kopplung einen Brückenschlag, um den Mensch doch wieder ins Boot zu holen. Die These das sich psychische und soziale Systeme wechselseitig irritieren können, liefert mir allerdings nur eingeschränkten Erklärungswert für die Praxis – schließlich unterschätzt man den Auswirkungsreichtum der Umwelt Mensch für Organisationen, so Eidenschink. König und Vollmer bringen es daher treffend auf den Punkt (S. 14):
- Diagnose des sozialen Systems: Wichtig ist, sich zu überlegen, welche Bedeutung die verschiedenen Faktoren für die konkrete Situation haben.
- Systemische Intervention: Im Blick auf die Diagnose gilt es, konkrete Handlungen zu überlegen und umzusetzen.
Quelle: Einführung in das systemische Denken und Handeln (S. 14).
Zur Diagnose des sozialen Systems und der daraus abgeleiteten Intervention fokussieren die Autoren auf folgende Faktoren:




- Personen: Wer sind die für diese Situation relevanten Personen?
- Deutungen: Was sind die subjektiven Deutungen, also Gedanken und Empfindungen, der relevanten Personen?
- Soziale Regeln: Welche sozialen Regeln gelten in dieser Situation?
- Regelkreise: Welche Regelkreise bestehen? Was ist das Verhalten von A und B?
- Systemumwelt: Welche Bedeutung hat die materielle und soziale Systemumwelt?
- Entwicklung: Was ist die Vorgeschichte der gegenwärtigen Situation?
Top 5 Tipps für Führungskräfte
Basierend auf der Systemtheorie nach Luhmann und den aktuellen Erkenntnissen aus Forschung und Praxis, gebe ich dir als Führungskraft 5 Tipps für die Führung deiner Mitarbeiter an die Hand:
- Denke in Regelkreisen: Verwende ein Denkmuster, das auf Regelkreisen und Wechselwirkungen basiert, anstatt nur Ursache-Wirkungs-Beziehungen zu betrachten. Beachte, wie sich Verhalten und Kommunikation gegenseitig beeinflussen. Frei nach Watzlawick: An der Beziehung, an der Kommunikation, will ich arbeiten.
- Schau auf die Umwelt: Beachte, dass soziale Systeme in einer Wechselwirkung mit ihrer Umwelt stehen. Menschen als Teil des sozialen Systems (Bateson) werden von der Umwelt beeinflusst, die zudem ein Davor und ein Danach kennt. Eine Sonnenblume wird in der Antarktis niemals wachsen.
- Schau auf den Menschen: Vermeide ein starres Entweder-oder-Denken und betrachte sowohl systemische als auch individuelle Aspekte. Berücksichtige die Einflüsse der Persönlichkeiten und Deutungen deiner Mitarbeiter. Manchmal hat halt doch das Individuum einen Vogel, wie Schulz von Thun so schön sagt.
- Beeinflusse Kommunikationsmuster: Erkenne, dass Veränderungen in Kommunikationsmustern positive Auswirkungen auf das System haben können. Identifiziere Bereiche, in denen Verbesserungen möglich sind, und fördere aktiv den Wandel in der Kommunikation und Interaktion zwischen deinen Mitarbeitern.
- Nutze systemisches Denken als Diagnoseinstrument: Verwende systemisches Denken als Werkzeug, um die Funktionsweise des sozialen Systems zu analysieren und Probleme zu diagnostizieren. Betrachte verschiedene Faktoren und ihre Wechselwirkungen, um ein umfassendes Verständnis der Situation zu entwickeln und gezielte Interventionen zu planen.
Diese Ratschläge sollen dir als Führungskraft helfen, die Systemdynamik in deiner Organisation besser zu verstehen und deine Führungsarbeit entsprechend anzupassen.
FAQ zur Systemtheorie
Fazit – Systemtheorie einfach erklärt
Luhmann liefert mit der Systemtheorie ein mögliches Modell oder Konstrukt zur Beschreibung von Phänomenen in einer komplexen Welt. Seine Theorie ist deskriptiv, sie will nur beschreiben. Dieser Beschreibung folgend, jedes Problem auf Hans zu reduzieren ist zu kurz gegriffen. Gerade bei größeren Systemen wie einem Unternehmen mit mehreren hundert oder tausend MitarbeiterInnen. Sprenger bemerkt dazu passend, kluge Leute haben in dummen Organisationen keine Chance.
Bei kleineren Systemen wie einem Fußballteam, möchte ich den individualdiagnostischen Blick nicht missen. Manchmal hat Hans einfach einen Vogel, auch wenn seine Umwelt starke Einladungen für dieses Verhalten aussendet. Das System wirkt auf mich und ich wirke auf das System. Was tue ich dazu, dass der andere sich so verhält wie er sich verhält? Abhängig von der Größe des Systems ist dieser Gegenseitige Einfluss mal größer, mal kleiner.
Dr. Patrick Fritz
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