Im Rahmen der Führungskreise Softwareentwicklung, Produktion, Personal und IT durfte ich von Jonathan Sprungk das Konzept „Radikale Verantwortung“ kennen lernen. Mit diesem FRITZ Tipp möchte ich meine Erkenntnisse dazu teilen und zur Diskussion stellen.
Inhalt
Was ist Verantwortung?
Nach Duden ist Verantwortung definiert als eine Verpflichtung dafür zu sorgen, dass innerhalb eines bestimmten Rahmens alles einen möglichst guten Verlauf nimmt und möglichst kein Schaden entsteht.
Quelle: Duden 2022
Wenn man jedoch in eine Runde fragt, schwingt bei diesem Begriff noch viel mehr mit: Wertschätzung, Lob, Fehlerkultur, Commitment, Einstellung, Kümmern, Schuld, Selbstbestimmtheit, usw.

Warum muss ich mich damit beschäftigen?
Die Beschäftigung mit Verantwortung ist wichtig! Moderne Führungs- und Organisationskonzepte wie SCRUM, KANBAN, Holacracy und New Work basieren alle auf ähnlichen Prinzipien:
- Abbau von Hierarchie
- Auflösungen von Abteilungen
- Reduzierung von Regeln
- Verteilung von Verantwortung
Und genau daran scheitern diese Konzepte auch immer wieder, weil es nicht gelingt Menschen in Verantwortung zu führen. Obwohl der Wunsch Verantwortung zu übernehmen groß ist, werden häufig nur die positiven Aspekte gesehen. Wer Verantwortung leben möchte, muss auch mit den negativen Konsequenzen umgehen können.
Welche Formen von Verantwortung gibt es?
Jonathan Sprungk unterscheidet zwischen kindlicher, erwachsener, hoher und radikaler Verantwortung:
- Kindliche Verantwortung: meint nur für das eigene Wohlbefinden zu sorgen. Zu vergleichen mit einem Kind, das spielt und seine Spielsachen danach einfach liegen lässt.
- Erwachsene Verantwortung: steht dafür den angerichteten Schaden zu beseitigen, z.B. indem die liegen gebliebenen Spielsachen der Kinder verräumt werden.
- Hohe Verantwortung: der Blick richtet sich in die Zukunft und wir werden präventiv tätig. Indem man z.B. Müllkübel aufstellt.
- Radikale Verantwortung: zielt darauf ab auch andere Personen in Verantwortung zu führen. Indem ein System oder Umfeld geschaffen wird, indem die Konsequenzen des eigenen Verhaltens erlebbar sind.
Bei einer ersten Selbsteinschätzung sehen sich fast alle Teilnehmer zwischen hoher und radikaler Verantwortung. Beim genaueren Hinsehen wird jedoch klar, dass unser Wirtschaftssystem darauf aufgebaut ist, andere dafür zu bezahlen, um selbst in kindlicher Verantwortung leben zu können (z.B. Putzfrauen, Restaurants, Polizei, Feuerwehr, Rettung, Ärzte, Rechtsanwälte, usw.).

Was sich in unsere Gesellschaft abspielt, spiegelt sich natürlich im Unternehmenskontext wider. Die stark arbeitsteilige Wirtschaft bringt es mit sich, dass zahlreiche indirekte Bereiche unter dem Vorwand der Effizienzsteigerung dafür bezahlt werden, die Spuren fehlender Verantwortung anderer Bereiche zu beseitigen. Eine zweite Selbsteinschätzung fällt immer wesentlich schlechter aus.
Was sind die Folgen fehlender Verantwortung?
Den Ausführungen Sprungks folgend, entsteht durch verantwortungsloses Verhalten ein „low drama“ – auch bekannt als Dramadreieck. Das Dramadreieck beschreibt ein Beziehungsmuster zwischen mindestens zwei Personen, die darin die Rollen Opfer, Täter und Retter einnehmen.

Die beteiligten Personen folgen unwillkürlich einem Verhaltensmuster, das nach klaren Regeln abläuft. Der Täter übernimmt die Initiative. Der Retter hält das „Spiel“ am Leben. Das Opfer fühlt sich verletzt, betrogen und verkauft.
Die Rollen sind im Spiel nicht fix vergeben. Ebenso kann es im Laufe dieses Musters zu plötzlichen Rollenwechseln kommen. Klar ist, beim Dramadreieck handelt es sich um ein unreifes, oft dysfunktionales Beziehungsmuster mit weitreichenden Folgen. Die Geschichte liefert zahlreiche „berühmte“ Beispiele für das Dramadreieck: Inquisition, Judenverfolgung, Irak, 9/11, usw.
Woran bemerkt man, ob man sich in einem Dramadreieck befindet und damit dazu beiträgt verantwortungslos zu handeln? Dazu sind typische Signalwörter hilfreich: „Man sollte“, anstelle „Ich“ oder „Wir“. „Muss“, anstelle „ich entscheide“ oder „warum“ anstelle „wofür“. Wenn man sollte, passierte oft gar nichts.
Was sind die Folgen radikaler Verantwortung?
Um aus dem „low drama“ auszusteigen, gibt es zwei Schlüssel. Erstens ist das Bewusstsein für dieses Verhaltensmuster wichtig, um aus dem automatisch ablaufenden Kreislauf auszusteigen. Zweitens hat das Opfer die stärkste Position, um das Spiel zu beenden. Ein Opfer, ist ein Opfer, solange es nicht die Verantwortung übernimmt. Wenn es kein Opfer gibt, kann der vermeintliche Retter auch keine Legitimation erhalten, um den Täter zu bestrafen.

Wenn wir von schlimmen Erlebnissen in unserem (Arbeits-)leben berichten, verfallen wir automatisch in die Opferrolle, wie eine Übung von Jonathan Sprungk eindrucksvoll zeigt. Wenn es jedoch gelingt aus dem „low drama“ auszusteigen fühlt man sich sehr viel kraftvoller, motivierter und lösungsorientierter. Sprungk nennt diesen Zustand „high drama“. Die Opferrolle wird abgelegt und alle werden zum Täter im Sinne des höheren Ziels. Reale Beispiel gibt es viele, die den Ausstieg aus der Opferrolle geschafft haben: John F. Kennedy, Martin Luther King, Mahatma Gandhi, Nelson Mandela, usw.
Wie kann ich mich und andere in radikale Verantwortung führen?
Wer es geschafft sich selbst aus der Opfer-Rolle zu befreien, bringt die besten Voraussetzungen mit, sein Umfeld in radikale Verantwortung zu führen. Folgende Fragen sollen als Anregung für den Führungsalltag dienen:
- Was sind die (negativen) Konsequenzen deines Verhaltens? Kannst du dir die (negativen) Konsequenzen deines Verhaltens vorstellen?
- Ja!
- Willst du das? Willst du mit diesen negativen Konsequenzen leben?
- Nein!
- OK, was kannst du machen? OK, was kannst du machen, um die negativen Konsequenzen zu vermeiden?
Ein Beispiel zur Verdeutlichung. Das eigene Kind möchte bei Wind und Kälte draußen barfuß gehen. Schritt 1 besteht darin die Konsequenzen aufzuzeigen. Kannst du dich an die Konsequenzen erinnern, als du bei diesem Wetter das letzte Mal barfuß gelaufen bist (Krankheit)? Schritt 2 besteht darin das Kind die Verantwortung für die Konsequenzen übernehmen zu lassen. Willst du wieder krank werden? Ja? Nein? Schritt 3 besteht optional darin nach Alternativen zu suchen. Nein, was kannst du stattdessen machen?
WICHTIG! Verantwortung kann nicht delegiert werden – sie kann nur angeboten und ggf. vom Gegenüber angenommen werden. D.h. die andere Seite muss dem Angebot zustimmen, sonst wäre es nur ein Befehl. Deshalb kommt im vorherigen Beispiel explizit die Frage, willst du das?Fazit
Wie kann Selbstverantwortung bei Mitarbeitern und Kollegen gefördert werden? Schon mehrfach hatte ich in FRITZ Führungskreisen diese Frage auf dem Tisch. Wie Sprungk aufzeigt, beginnt die Antwort immer bei mir selbst. Ich muss mich selbst aus der Opfer-Rolle befreien, um Mitarbeiter und Kollegen zu helfen, ebenfalls auszusteigen.
Das Anleiten zum Ausstieg kann nur dort funktionieren, wo die Führungskraft bereit ist loszulassen. Vielleicht auch in dem Wissen, ich könnte es eigentlich selbst besser. Dabei ist es wichtig einen stabilen Rahmen zu schaffen, in dem durch klare Zielsetzung und aktivem Zulassen etwas Neues entstehen kann. Der Weg zum Ziel liegt beim Gegenüber, da radikale Verantwortung niemals per Verordnung entstehen kann.
Dr. Patrick Fritz
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