„Mittlerweile wollen immer mehr Mitarbeiter den Purpose, den Sinn und die Bedeutung ihrer eigenen Arbeit erkennen. Können Sie aus Ihrer Erfahrung einen ähnlichen Trend feststellen?“ Diese Frage wurde mir im Rahmen eines Experteninterviews gestellt. Meine Antwort fiel für den Interviewer nicht wie erwartet aus. Denn ich vermute dahinter eine Mogelpackung. In diesem Beitrag nehme ich euch mit auf meine Erkenntnisreise mit drei Stationen.
1. Existenzanalyse nach Viktor Frankl
Manfred Zumtobel, einer meiner Lehrmeister, hat mich an die Existenzanalyse nach Viktor Frankl (1905 – 1997) herangeführt. Nach Frankl ist ein Wert ein persönlicher Motivationsfaktor, der einen Mensch etwas bevorzugen oder tun lässt. Durch das Erfahren von Werten entsteht im Leben Sinn.
Wenn also Organisationen als Kollektiv ihre Werte definieren, müsste es ein ziemlicher Zufall sein, wenn alle Mitarbeiter dieselben Werte haben. Im Umkehrschluss müsste sich die Organisation von allen Mitarbeitern trennen, die nicht dieselben Werte haben wie die Organisation.
Zumtobel bzw. Frankl hat mir die erste Erkenntnis auf meiner Reise geliefert: Werte, Sinn oder Purpose scheinen etwas sehr Persönliches zu sein. Fast schon ein wenig untergriffig, wenn ein Kollektiv versucht, das für alle Mitglieder zu definieren .
2. Kulturveränderung nach Winfried Berner
Winfried Berner, ein von mir sehr geschätzter Experte im Bereich Kulturveränderung, hat mir das Regenmacher-Syndrom erklärt:
- Man formuliert in wohlgesetzten Worten, wie man die Welt gerne hätte: Vision, Leitbild, Führungsgrundsätze, Werte, Sinn, Purpose, …
- Man vollführt einige rituelle Tänze: Workshops, Mitarbeiterversammlungen, Schulungen.
- Man bringt ein paar symbolische Opfergaben: Hochglanzbroschüren, Erinnerungskärtchen.
- Und wartet dann auf das Eintreten des gewünschten Ergebnisses: Eine neue, veränderte Unternehmenskultur bzw. Führungsverhalten.
Um das Regenmacher-Syndrom auf den Punkt zu bringen, auch die sorgfältigste Beschreibung wie man die Welt gerne hätte, bewirkt nicht das die Welt so wird.
Berner hat mir die zweite Erkenntnis auf meiner Reise geliefert: Wenn man sich als Organisation trotzdem Werte, Sinn oder Purpose leisten möchte, müssen diese auch gegen Regelignoranten durchgesetzt werden. Vor allem gegen High Performer!
3. Erkenntnisse aus der Purpose-Forschung
Trotz jahrzehntelanger Forschung liefert uns die Wissenschaft zum Zusammenhang zwischen Zufriedenheit und Leistung keine eindeutigen Antworten. Was können wir daraus lernen? Forschungen von Perrow zur Erhöhung der Mitarbeiterzufriedenheit durch mehr Selbstbestimmung bzw. Autonomie führen nicht grundsätzlich zu besserer Leistung.
Höge und Schnell zeigen, dass Arbeitsengagement und Sinnerfüllung in der Arbeit in einem engen Zusammenhang stehen. Der wichtigste Prädikator für Sinnerfüllung ist, ob die Tätigkeit als für andere bedeutsam wahrgenommen wird. Grant folgert, der Sinn der Arbeit liegt beim Kunden. Mitarbeiterengagement kann gesteigert werden, wenn es einen direkten Bezugspunkt zum Endkunden gibt.
McClelland (1917-1998) rückt die beiden Befunde in ein gemeinsames Bild. Um Menschen im Arbeitsprozess zu motivieren kann ich ein Umfeld schaffen, indem man sich durch Leistung Status und Autonomie erarbeiten kann und/oder eine Kultur, in der das gute Miteinander handlungsleitend ist.
Die HR Peppers aus Berlin bringen die dritte Erkenntnis auf meiner Reise auf den Punkt: Entscheidend ist nicht, was wir tun, sondern ob wir das Gefühl haben, einen Beitrag für jemand anderen zu leisten.
Purpose, Sinn und Werte im Bild
Wenn ich die drei Scheinwerfer auf das Thema Purpose, Sinn und Werte zusammenführe, ergibt sich für mich folgendes Bild.
Werte und der daraus entstehende Sinn bzw. Purpose sind etwas sehr Persönliches. Vielleicht bringt es mich gerade deshalb so auf die Palme, wenn jemand dagegen verstößt und nicht bestraft wird (Fairness-Aspekt). Sinn oder Purpose empfinden die meisten Menschen, wenn Sie etwas für andere tun können. Das ist wichtig für die eigene Psyche, so Precht. Selbstbestimmung bzw. Autonomie kommt, wenn überhaupt, an zweiter Stelle.
Wenn es so einfach ist, wieso führen wir dann diese rituellen Tänze rund um Purpose, Sinn und Werte in regelmäßigen Abständen auf? Was ist das dahinterliegende Problem?
Vermutung 1: Wir sanktionieren Regelignoranten nicht, die sich unkollegial Verhalten und die Werte von Kollegen verletzten. Darum müssen wir einen Tanz auf der großen Bühne der Organisation aufführen.
Vermutung 2: Wir gestalten Rollen und Organisationen, die zu wenig mit dem Kunden zu tun haben. Dabei geht dem Einzelnen das Gefühl verloren, einen Beitrag für jemand anderen zu leisten.
Vermutung 3: Wir wünschen uns langfristige Beziehungen zu unseren Mitmenschen, gleichzeitig müssen wir uns gefühlt immer schneller verändern. Vor diesem Hintergrund geben uns Purpose, Sinn und Werte ein Gefühl von Langfristigkeit.
Fazit – Bullshit or not?
Sanktioniere Regelignoranten die sich unkollegial Verhalten. Das lässt sich mit Hausverstand und guter Kinderstube lösen. Gestalte Rollen und Organisationen, die einen langfristigen, engen Kontakt zum Kunden haben. Das braucht ein wenig Grübelarbeit. Wenn uns beides gelingt, können wir uns viele rituelle Tänze sparen und setzen an der eigentlichen Ursache des Problems an.
Dr. Patrick Fritz
Kommentar verfassen