Im Führungskreis Produktion haben wir Neurowissenschaften auf die Agenda genommen. Mit Jorge Cendales konnte ich einen ausgewiesenen Experten im Neuromarketing und wunderbaren Menschen für unsere Runde gewinnen, den ich in diesem FRITZ Tipp gerne eine Bühne gebe. Der gebürtige Kolumbianer weiß nach einer internationalen Konzernkarriere bei IBM und HP wie es in der Praxis läuft und kombiniert dies auf einzigartige Weise mit Erkenntnissen aus den Neurowissenschaften.
Inhalt
Was sind Neurowissenschaften ?
Zu den Neurowissenschaften werden naturwissenschaftlichen Forschungsbereiche bezeichnet, in denen Aufbau und Funktionsweise von Nervensystemen untersucht werden. Häufig werden Begriffe wie Neurobiologie, Hirnforschung oder Gehirnforschung synonym verwendet.
Quelle: Persönliche Mitschrift beim Führungskreis Produktion im Februar 2023.
Die Neurowissenschaft und das daraus abgeleitete Neuromarketing spielt heutzutage eine große Rolle bei der Optimierung von Marketingkampagnen und -prozessen. Aber wie genau kann die Neurowissenschaft hierbei unterstützen und welche Vorgänge sind dabei essentiell?
Bewusst vs. Unbewusst
Die Funktionsweise des Gehirns lässt sich für Cendales am einfachsten anhand des klassischen Eisbergmodells erklären: 20% sind bewusst über Sprache und Schrift zugänglich (deklaratives Gedächtnis). 80% sind unbewusst nur über den Körper und Bilder zugänglich (limbisches Gedächtnis). Der Körper reagiert auf Gedanken und umgekehrt.

Besonders wichtig, der unterbewusste Teil des Gehirns ist schneller und stärker und damit der Chef im Hause. Lediglich 10^3 von 10^11 wahrgenommenen Bit/s werden im Bewusstsein verarbeitet, wie wir aus der Neurobiologie wissen.
Das Unterbewusstsein steuert unsere Körperfunktionen. Oder musst du daran denken zu atmen? Vor diesem Hintergrund überraschet Cendales Botschaft wenig: Das Gehirn ist nicht primär zum Denken gebaut worden. Das Gehirn ist das zentrale Nervensystem und stellt sicher das der Körper überlebt.
Im Hinblick auf die Neurowissenschaften ist die erste Botschaft vollkommen klar: Wer nur über Sprache und Schrift kommuniziert wird nur an der Oberfläche kratzen. Wirkungsvolle Bilder sind das um und auf, um beim Zielpublikum haften zu bleiben.Lernen und Gedächtnis
Wenn wir schon beim Haften bleiben sind. Wie lernt eigentlich das Gehirn? Nach Cendales leben Gehirne im Hier und Jetzt. Im Ultrakurzzeit-Gedächtnis bleibt nur haften was neu und relevant ist. Precht formuliert es anders: „Alles, was wir erleben und aufnehmen, sortieren wir in Windeseile nach der Frage, ob es für uns relevant ist. Und das ist vor allem das, was neu ist oder wichtig oder am besten beides.“




Die nächste Stufe, das Kurzzeit-Gedächtnis (Arbeits-Gedächtnis) umfasst die letzten 4 Minuten. Ins darauffolgende Intermediäre-Gedächtnis kommt nur was mit starken Emotionen verbunden ist. Durch Wiederholung kommen Erlebnisse ins Langzeit-Gedächtnis. Es braucht beispielsweise 47 Tage, bis ein Ritual bleibt.
Gedächtnis-Expertin Turecek ergänzt, die Wiederholungen müssen von Mal zu Mal schwieriger werden. Das kann durch Spacing erreicht werden, d.h. die Abstände zwischen den Wiederholungen werden größer. Ebenfalls muss das Wiederholte variiert werden.
Im Hinblick auf die Neurowissenschaften lautet die zweite Botschaft wie folgt: Botschaften müssen neu und relevant sein, sonst werden sie weggefiltert. Selbst bei emotionalen Botschaften braucht es Wiederholung und Variation. Das Gehirn lernt am besten, wenn schon bekannte Inhalte mit Neuem integriert werden.4 Ebenen Modell der Persönlichkeit
Auch wenn Lernprozesse bei allen Menschen ähnlich ablaufen, sind nicht alle Menschen gleich. Das wird mit dem 4 Ebenen Modell der Persönlichkeit von Roth und Cierpka offensichtlich:
- Unterste limbische Ebene: Hier befinden sich angeborene Reaktionsmuster und Urängste. Unser Temperament ist mehr oder minder vorgeburtlich gegeben und wird durch die 6 neurobiologischen Grundsysteme bestimmt.
- Mittlere limbische Ebene: Bis zum 3. Lebensjahr geschieht die emotionale Konditionierung durch Familie und Umwelt. Unbewusste Verhaltenssteuerung über konditionierte Angst und konditioniertes Belohnungs- und Motivationssystem.
- Obere limbische Ebene: Bis zum 14 Lebensjahr entwickelt der Mensch das individuelle-soziale ICH. Dabei helfen eigene emotionale Erfahrungen und Werte. Mit 14, 15 Jahren ist man im Grundcharakter schon relativ fertig.
- Großhirnrinde: Der Mensch entwickelt bis zum 21. Lebensjahr und lebenslänglich das kognitiv-kommunikative ICH. Hier sitzt das Arbeitsgedächtnis (Intelligenz und Verstand) und das rationale ICH.




Die 6 neurobiologischen Grundsysteme bestimmen maßgeblich das Temperament einer Person (nicht den Charakter), also die unterste Ebene des oben dargestellten Persönlichkeitsmodells. Man könnte auch von Werkseinstellung sprechen:
- Stress-System: Adrenogerne und Cortisoide.
- Beruhigungs-System: Serotonerge.
- Bewertungs- und Belohnungs-System: Dopaminerge und Endogene Opioide.
- Impulskontrolle: B-Aufschub Serotonerge / Dopaminerge.
- Bindung und Empathie: Oxytocin.
- Realitätssinn und Risikowahrnehmung: Acetylcholin (Aufmerksamkeit).
Insbesondere das Stressverarbeitungs- und Beruhigungssystem wie bereits durch die Mutter bzw. die Schwangerschaft stark beeinflusst. Durch diese Erfahrungen ist unser Gehirn konditioniert. Allerdings können Konditionierungen durch Bewusstwerdungs-Prozesse geändert werden.
So bringt es Roths Formel für Veränderung auf den Punkt: Ein ausreichender Leidensdruck kombiniert mit passender Belohnungsaussicht, garniert mit ausreichend Geduld, führt zu erfolgreicher Veränderung.
Im Hinblick auf die Neurowissenschaften ist auch die dritte Botschaft vollkommen klar: Wer es versteht die Urängste von Menschen anzusprechen, hat sein Publikum im Griff. Die Trumps dieser Welt beherrschen unbewusste Verhaltenssteuerung über konditionierte Angst. Aber es gibt auch die gute Seite.9 Grundbedürfnisse des Menschen
Die neun Grundbedürfnisse des Menschen nach Cendales sind:
- Bindung: Geborgenheit und sozialer Kontakt
- Eigenständigkeit und Autonomie
- Anerkennung und Bestätigung
- Einfluss und Kontrolle über Andere
- Vorwärtskommen
- Sicherheit
- Status/ Macht/ Größe
- Selbstbestätigung (Vertrauen)
- Selbstverwirklichung
Mit den Worten von Häusel strebt der Mensch nach der Erfüllung seiner Emotionssysteme (Grundbedürfnisse). Wenn von außen Anreize, z.B. durch Kommunikation, gesetzt werden, die auf die Emotionssysteme einzahlen, wird man auf Resonanz im Sinne von Motivation stoßen.
Weiterführend hat Häusel eine neuropsychologische Zielgruppensegmentierung entwickelt, die zwischen sieben Limbic Types unterscheidet:
- Harmoniser (grün/28%): Familie, Geborgenheit, Harmonie und Fürsorge.
- Traditionalist (grün/18%): Tradition, Bescheidenheit, Ordnung und Konstanz.
- Disziplinierte (rot/12%): Genügsamkeit, Vernunft, Disziplin und Präzision.
- Performer (rot/11%): Ehrgeiz, Erfolg, Zielstrebigkeit und Status.
- Abenteurer (orange/6%): Risikofreude, Autonomie, Impulsivität und Rebellion.
- Hedonist (orange/13%): Neugier, Spontanität, Spaß und Kreativität.
- Offene (orange/12%): Wohlfühlen, Genuss, Offenheit und Fantasie.
Die Limbic Types lassen sich nun wunderbar auf die Kommunikation mit Kunden übertragen. Beim Performer wird auf die neuesten Technologien hingewiesen, um ihm einen Statusgewinn nahe zu legen. Beim Harmoniser wird auf die Vorteile für ihn und seine Familie fokussiert. Natürlich mit der entsprechenden Bildwelt unterlegt.
Im Hinblick auf die Neurowissenschaften ist auch die vierte Botschaft vollkommen klar: Jeder Botschaft muss ein Grundbedürfnis des Menschen adressieren.Fazit – Neurowissenschaften
Bei alle den wichtigen Einsichten die uns die Neurowissenschaftenliefern, darf eines nicht vergessen werden. Neuroplastizität ist die wichtigste Erkenntnis der Neurowissenschaft der letzten 20 Jahre. Wir entwickeln uns bis zum letzten Tage. Lebenslanges Lernen ist die Grundeigenschaft des Gehirns.
Dr. Patrick Fritz
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