Der lesenswerte Weltbestseller Eine kurze Geschichte der Menschheit von Yuval Noah Harari basiert auf der zentralen These, dass jede großangelegte menschliche Unternehmung fest in gemeinsamen Geschichten verwurzelt ist, die nur in den Köpfen der Menschen existieren. Die Fähigkeit sich eine Wirklichkeit vorzustellen und sich an die Regeln der erdachten Welt zu halten, nennen Fachleute Konstruktivismus. In diesem FRITZ Tipp gilt das Motto, Konstruktivismus einfach erklärt.
Inhalt
Was ist Konstruktivismus nach Harari?
Harari beschreibt die kognitive Revolution auf den Seiten 40-41 wie folgt:
- Soziologen haben in Untersuchungen herausgefunden, dass eine natürliche Gruppe, maximal aus 150 Personen bestehen kann.
- Mit Mehr Menschen können wir keine engen Beziehungen pflegen, und über mehr Menschen können wir nicht effektiv tratschen.
- Eine große Zahl von wildfremden Menschen kann effektiv zusammenarbeiten, wenn alle an gemeinsame Mythen glauben.
- Jede großangelegte menschliche Unternehmung (..) ist fest in gemeinsamen Geschichten verwurzelt, die nur in den Köpfen der Menschen existieren.
- Zwei Mitarbeiter von Google, die einander noch nie gesehen haben, können um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten, weil sie an die Existenz von Google, Aktien und Dollars glauben.
- Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten, die wir Menschen erfunden und einander erzählen.
- Wir beherrschen die Welt, weil wir das einzige Tier sind, dass an Dinge glauben kann, die ausschließlich in unserer Vorstellung existieren, zum Beispiel Götter, Staaten, Geld und Menschenrechte.
Die kognitive Revolution nach Harari könnte auch als Geburtsstunde des Konstruktivismus bezeichnet werden:
Konstruktivismus ist eine Erkenntnistheorie, die davon ausgeht, dass ein erkannter Gegenstand vom Betrachter selbst durch den Vorgang des Erkennens konstruiert wird. Dadurch nimmt jeder Mensch die Welt anders wahr, da das menschliche Unbewusste Dinge hervorhebt oder sogar neu in das Sichtfeld einfügt, die ihm als wichtig erscheinen.
Quelle: In Anlehnung an Wikipedia, Spektrum und Wirtschaftslexikon.
Die Frage, wie Menschen zu ihrem Wissen über die Welt kommen, kann auf unterschiedlichen Wegen beantwortet werden. Karl Popper als Leitfigur des kritischen Rationalismus, würde hier wohl anders antworten. Harari bezieht eindeutig Position. Google, Aktien und Dollars sind Dinge, die nur in Geschichten existieren, die wir Menschen erfunden habe und einander erzählen:
Konstruktivismus in der Psychologie nach Watzlawick
Als Begründer des radikalen Konstruktivismus gelten Ernst von Glasersfeld und Heinz von Foerster. Der Psychotherapeut und Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick ist einer der bedeutendsten Vertreter dieser speziellen konstruktivistischen Denkhaltung. Paul Watzlawick betrachtete den Konstruktivismus in Bezug auf die menschliche Kommunikation. Ein Hörvergnügen mit vielen praktischen Beispielen ist sein Vortrag, Wie wirklich ist die Wirklichkeit?:
Die praktischen Erfahrungen zu seinen Theorien gewann Paul Watzlawick in der therapeutischen Arbeit mit Schizophrenen. Die für mich wichtigsten Konstruktivismus Beispiele von Watzlawick fasse ich für euch im Schnelldurchlauf zusammen:
- Epiktet: „Es sind nicht die Dinge selbst, die uns beunruhigen, sondern die Vorstellungen und Meinungen von den Dingen.“
- Einstein: „Es ist unmöglich nur beobachtbare Größen in eine Theorie aufzunehmen, es ist vielmehr die Theorie die entscheidet was man beobachten kann.“
- Heisenberg: „Die Wirklichkeit, von der wir sprechen können, ist nie die Wirklichkeit an sich, sondern eine von uns gestaltete Wirklichkeit.“
- Watzlawick: „Das die Wirklichkeit von uns erfunden wird und nicht gefunden wird, ist ein schwer zu schluckende Pille.“
- Glasersfeld: „Wissen wird vom lebenden Organismus aufgebaut, um den an für sich formlosen Fluss des Erlebens in wiederholbare Erlebnisse und relativ verlässliche Beziehungen zwischen diesen zu ordnen.“
- Watzlawick: „Solange unsere Wirklichkeitskonstruktionen passen, leben wir ein einigermaßen erträgliches Leben.“
- Watzlawick: „Der Konstruktivismus ist eine Grundhaltung, die den Betreffenden frei, verantwortlich und tolerant macht.“
Wer Watzlawick zuhört erkennt den hohen Wert des Konstruktivismus für Psychologie und Psychotherapie. Wenn der Begriff der Wahrheit durch Zweckdienlichkeit oder Gangbarkeit (Viabilität) ersetzt wird, ergeben sich in der Behandlung völlig neue Möglichkeiten.
Wenn Wirklichkeitskonstruktionen zur Erklärung der Welt für Menschen nicht mehr nützlich sind, ergeben sich Probleme. Nach Watzlawick setzt Psychotherapie genau da an, wo die Wirklichkeit zusammenbricht. Wenn Therapie erfolgreich ist, hat sie dem Klienten durch Veränderung seiner Wirklichkeitskonstruktionen zusätzliche Verhaltensmöglichkeiten erschlossen.
Konstruktivismus in der Philosophie nach Precht
Hermann Lotze (1817-1881), Philosophieprofessor an der Universität Berlin, kann als Vordenker des Konstruktivismus gesehen werden: „Wir können die Welt wissenschaftlich oder ästhetisch wahrnehmen, religiös, ökonomisch oder politisch. Doch nirgendwo winkt zum Lohn eine universale Weisheit.“
William James (1842-1910) ist einer der populärsten US-amerikanischen Philosophen. Für ihn sind Bewusstsein und „ICH“ keine Gegenstände, sondern Prozesse. Alles befindet sich im Fluss, einem Bewusstseinsstrom (stream of consciousness). So antwortet James auf Nietzsches Frage, ist Erleben Erdichten, mit einem knappen, natürlich, was sonst?

Emotionen sind ebenfalls Teil des Bewusstseinsstroms. Angst ist nicht die Reaktion auf die Gefahr, sondern die Interpretation unserer körperlichen Signale. Nach Precht ist James Emotionstheorie bahnbrechend und führt auf direktem Weg in den Konstruktivismus des 20. Jahrhunderts. Korzybski musste nicht viel machen, um zu erkennen, unser Bewusstsein entwirft eine Landkarte der Welt.
Konstruktivismus in der Beratung nach Simon
Fritz B. Simon, der studierte Mediziner und Soziologe, ist einer der Pioniere in systemischer Therapie und Beratung. Von Christina Grubendorfer wurde er im LEA-Podcast befragt: Welchen Unterschied macht der Konstruktivismus für die Gestaltung von Organisationen?
Die für mich wichtigsten Antworten von Fritz B. Simon fasse ich für euch im Schnelldurchlauf zusammen:
- Der Konstruktivismus ermöglicht in der Beratung Weltbilder in Frage zu stellen.
- Man könnte immer auch ein anderes Weltbild konstruieren. Ist das aktuelle Weltbild passend zur Welt in der man lebt?
- Für mich sind Systemtheorie und Konstruktivismus nicht zu trennen.
- Es gibt Leute, die herausfinden wollen, wie Systeme funktionieren.
- Das mag für Naturwissenschaftler funktionieren. Bei sozialen Systemen muss ich konstruktivistisch denken.
- Theorien sind ja nicht Abbildung der Wirklichkeit. Sondern Landkarten, mit deren Hilfe man Ziele erreicht.
- Wenn jemand andere Landkarten verwendet, mit denen er ans Ziel kommt, sei ihm das vergönnt.
- Es geht darum Phänomene, die wir gemeinsam wahrnehmen, ganz anders erklären zu können.
- Jeder Mensch braucht ein Weltbild (=Landkarte), um sein Handeln daran orientieren zu können.
- Wissenschaft sind Verfahrensweisen die unterschiedlichen Beobachter zu denselben Ergebnissen führen.
- Der Nachteil und Vorteil des Konstruktivismus, es gehen Wahrheits- und Machtansprüche verloren.
- Jede Konstruktion einer Wirklichkeit ist eine massive Intervention. Ist es eine die dir mehr Handlungsmöglichkeiten eröffnet oder verschließt?
- Eine der nützlichsten Methoden für systemische Berater sind hypothetische Fragen. Der Konstruktivismus nutzt den Möglichkeitssinn nach Musil.
- Die 3 Elemente von Wirklichkeitskonstruktion in Form von Landkarten sind Beschreibung, Erklärung und Bewertung.
In der Beratung soll durch Wiedereinführung von Kommunikation ins Getriebe neue Optionen geschaffen und ausgewählt werden, so Altmeister Looss. Dies gelingt durch Einfügen brauchbarer Unterschiede in die Landkarten des Klienten, um neue Verhaltensmöglichkeiten zu erschließen. Ich erklär mir die Dinge ein Stück weit anders, um besser damit zurecht zu kommen und anders zu handeln.
Konstruktivismus in der Pädagogik nach Montesori
Nach Galileo Galilei, kann man einen Menschen nichts lehren, man kann ihm nur helfen, es in sich selbst zu entdecken. Auf die Pädagogik übersetzt, bedeutet Konstruktivismus, dass Wissen nicht übertragen werden kann, sondern von jedem Menschen neu konstruiert wird. Lernen ist kein passives Speichern, sondern ein aktives Konstruieren von Wissen.
Wer diese Gedanken ernst nimmt, sieht den Lehrer nicht mehr als Wissensvermittler (geht ja gar nicht), sondern als Unterstützter des Lernprozesses beim Schüler. Nicht umsonst ist der Lehrberuf für Precht ein Begabungsberuf, bei dem das Wie der Vermittlung von zentraler Bedeutung ist. Nach Montessori müssen wir davon wegkommen Kinder „belehren zu wollen“, sondern sie zu „Baumeister ihrer Selbst“ zu befähigen.
Konstruktivistische Lerntheorie hat sich aber nicht nur in der Schule ihren Platz erkämpft. Auch in Unternehmen wird klassisches Wissensmanagement zunehmend bezweifelt. Wissen kann nicht konserviert und weitergegeben werden, wie eine Ware. Wissen ist ein Prozess der individuellen Aneignung von Informationen und entsteht bei der Arbeit an praxisnahen Problemstellungen.
Fazit
Der Konstruktivismus stellt eine objektive Welt nicht in Frage, nur unsere Möglichkeiten als Menschen diese zu erkennen. Vor diesem Hintergrund können wir uns nur auf gemeinsame Verfahrensweisen einigen, die unterschiedliche Beobachter zu denselben Ergebnissen führen.
Wie Psychologie, Philosophie und Pädagogik zeigen, ist es in der Arbeit mit Menschen ratsam auf unverrückbare Wahrheiten zu verzichten. Jeder hat seine Landkarten von der Welt, die aber auch weiterentwickelt werden können.
Und hier liegt der Clou an der Sache. Wenn wir diese Grundhaltung berücksichtigen, werden wir ungeheuer tolerant, weil es jeder auch ein wenig anders sehen kann. Gleichzeitig können wir einen verantwortlichen Beitrag dazu zu leisten, die Dinge ein wenig genauer zu erkennen. Das ist Fortschritt!
Dr. Patrick Fritz
Kommentar verfassen