Der Weltbestseller „Homo Deus: Eine Geschichte von Morgen“ von Yuval Noah Harari basiert auf der Hypothese, dass freier Wille eine Illusion ist. Demzufolge ist der Mensch nur eine Art Bio-Maschine, die durch Algorithmen ersetzt werden könnte.
Führung und Change wären in diesem Fall eine Rechnung, die man lösen kann. Auch wenn ich nicht seiner Meinung bin, ist das Buch absolut lesenswert. Doch zunächst zu seinen Argumenten:
Liberale schätzen die Freiheit so sehr, weil sie glauben, Menschen würden über einen freien Willen verfügen. (..) doch mit den jüngsten Erkenntnissen der Biowissenschaften lässt sie sich nicht wirklich in Einklang bringen. (..) Die elektrochemischen Abläufe im Gehirn, (..) sind entweder deterministisch oder zufällig oder eine Mischung aus beidem – aber niemals frei. Soweit wir heute wissen, haben Determinismus und Zufälligkeit den gesamten Kuchen unter sich aufgeteilt und der Freiheit nicht einen Krümel übriggelassen.
Jetzt bin ich mit Sicherheit nicht so ein scharfer Denker wie Harari, dennoch möchte ich ihm widersprechen. Bei den jüngsten Erkenntnissen der Biowissenschaften bezieht sich der Autor ausschließlich auf die Studien zu „Split-Brain-Patienten“ von Prof. Dr. Roger Wolcott Sperry und seinem Schüler Prof. Dr. Michael S. Gazzaniga. Sperry wurde 1981 zur Hälfte mit dem Nobelpreis für Physiologie oder Medizin ausgezeichnet. Gazzaniga, einer der renommiertesten Neurowissenschaftler unserer Zeit, ist berühmt für das „Hühnerfuß-Experiment“.
Hühnerfuß-Experiment
Gazzaniga zeigte der linken Gehirnhälfte eines Split-Brain-Patienten (Durchtrennung der beiden Hirnhemisphären) ein Bild eines Hühnerfuß. Der rechten Gehirnhälfte ein Bild einer verschneiten Landschaft. Auf die Frage, was er nun gesehen hatte, antwortete er: „einen Hühnerfuß“. Der Patient nahm also nur wahr was seiner linken Gehirnhälfte präsentiert wurde.
Anschließend bat Gazzaniga den Patienten unter verschiedenen Motiven ein zweites, dazu passendes auszuwählen. Die rechte Hand (linke Gehirnhälfte) tippte auf ein Bild von einem Huhn. Die linke Hand (rechte Gehirnhälfte) tippte auf ein Bild von einer Schneeschaufel. Auf die Frage, warum er so gewählt hatte, antwortete er: „Der Hühnerfuß gehört zum Huhn. Und natürlich braucht man eine Schaufel, um den Hühnerstall sauber zu machen.“
Schneeschaufel-Interpretation
Gazzaniga kommt nun zum Schluss, dass die linke Gehirnhälfte nicht nur der Sitz des Sprachzentrums ist, sondern auch ein Interpret, der fortwährend damit beschäftigt ist, unserem Leben einen Sinn zu geben. Diese Sinngebung passiert zeitversetzt. Entscheidungen zeichnen sich schon 300 Millisekunden, ehe sie bewusst getroffen werden, im Gehirn ab. Gazzaniga folgert in einem Spiegel-Gespräch: „Wir sind nur – wenngleich wundervoll entworfene – Maschinen, die rein deterministisch arbeiten.“
So spannend ich das Experiment von Gazzaniga finde, würdest du aufgrund der Ergebnisse dem Menschen den freien Willen absprechen und ihn mit einer Maschine vergleichen? Ich habe dabei großes Bauchweh. Nicht nur weil es sich nicht gut anfühlt. Sondern weil die Erkenntnislage hierzu verdammt dünn und in der Wissenschaft nicht unumstritten ist.Freie Wille in der Psychologie
Prof. Dr. John Bargh, Professor für Psychologie an der Yale University, hat sein Berufsleben dem Erforschen des freien Willens gewidmet. Seine komprimierten Erkenntnisse finden sich im Buch „Vor dem Denken – Wie das Unbewusste uns steuert„. Natürlich berichtet auch er von Gazzanigas Experimenten, seine Interpretation ist jedoch eine andere:
Die bahnbrechende Erkenntnis, die Gazzaniga bei diesen Experimenten gewann, lautet, dass die Impulse, die viele unserer täglichen Handlungen von Augenblick zu Augenblick auslösen, auf Gehirnprozesse beruhen, die wir nicht wahrnehmen, auch wenn wir sie rasch begreifen.
Barghs Ausführungen folgend, hat sich das Bewusstsein relativ spät in der Evolutionsgeschichte herausgebildet. Doch die unbewussten Mechanismen unseres früheren Gehirns verschwanden deshalb nicht plötzlich. Das Bewusstsein kann als Zusatzprogramm verstanden werden, dass unsere unbewusste Maschinerie ergänzt. Was bedeutet das nun?
Wir sind keine geistlosen Automaten, völlig abhängig von äußeren Stimuli, die uns wie Aufziehpuppen durch das Leben laufen lassen. Aber wir sind auch keine allwissenden Herren unserer selbst, die jeden Gedanken und jedes Handeln voll und ganz unter Kontrolle haben.
Der US-Amerikanische Hirnforscher Benjamin Libet (1916-2007) ergänzt in diesem Zusammenhang den „freien Nicht-Willen oder Unwillen“. Danach können wir immerhin Nein zu dem sagen, was ein Impuls in unserem Gehirn uns vorschreiben will. Vom Impuls des Willens bis zur bewussten Entscheidung vergeht eine halbe Sekunde. Aber es vergeht noch mal eine halbe Sekunde, bis der Patient das Handgelenk bewegt. Es bleibt die Chance, die Aktion abzubrechen (Precht 2007, S. 154 und Precht 2017, S. 330).
Freie Wille in der Philosophie
Auch Precht selbst stellt sich der Annahme von Harari entgegen. In seinem Werk „Erkenne die Welt“ bezieht er sich auf den Schotten Johannes Duns Scotus (1266-1308 n. Chr.), einen der scharfsinnigsten Denker des Mittelalters (S. 486-490):
- Nicht anders scheint es sich mit dem menschlichen Willen zu verhalten. Er entzieht sich aller Logik und Berechnung.
- Für Aristoteles war der menschliche Wille auf ein Ziel gerichtet. (..) Dons Scouts stellt dagegen fest, dass unser Wille oft andere Wege geht als unser Intellekt.
- Zudem scheint er zerrissen zu sein zwischen der Sehnsucht nach dem Gerechten und dem Guten.
- Bei Duns Scouts wird Einsehen und Wollen zu einer schwierigen Aufgabe. Und aus der kalten Logik der Hochscholastik wird bei ihm Psycho-Logik.
Für Aristoteles war der Mensch ein Tier, das ein für alle Mal feststeht – ähnlich scheint es Harari nach knapp 2500 Jahren wieder zu sehen. Schön, dass gerade ein Theologe wie Dons Scouts alles scheinbare Wissen über unsichtbare Strukturen und Ordnungen der Welt, ins Reich der Spekulation verweist.
Fazit – Freier Wille
So gerne ich Hararis Buch gelesen habe, unterstelle ich ihm eine sehr einseitige Auslegung der Faktenlage. Freier Wille ist keine Illusion. Bewusste Gedanken spielen eine Rolle. Das ICH umfasst sowohl das Bewusste als auch das Unbewusste. Führung und Change sind keine Rechnungen, die man mathematisch lösen kann. Vielleicht rudert Harari auch deswegen in einem aktuellen ORF-Interview ein Stück weit zurück, und sagt, worum es ihm eigentlich geht:
Ich versuche die Menschen auf die Tatsache zu stoßen, dass sie hackbare, manipulierbare Tiere sind. (..) Wenn wir das Begreifen, können wir weniger zwanghaft auf unsere Wünsche reagieren. (..) Wenn wir uns selbst und unsere Wünsche als das verstehen, was sie wirklich sind, wird es die Welt zu einem viel besseren Ort machen, als wenn wir beständig nur versuchen, die Begehrlichkeiten umzusetzen, die in unserem Kopf auftauchen.
In dieser Absicht möchte ich Harari zu 100% unterstützen. Oder glaubst du immer noch, dass die Dienste von Google, Facebook & Co wirklich kostenlos sind? Natürlich geht es darum mithilfe von Daten (Kauf-)Verhalten zu beeinflussen.
Dr. Patrick Fritz
Kommentar verfassen