In mehreren Führungskreisen ist mir das Modell der 4 Entwicklungsphasen eines Unternehmens nach Friedrich Glasl untergekommen: Pionierphase, Differenzierungsphase, Integrationsphase und Assoziationsphase. Ich halte das Modell für praktisch wertvoll, um Antworten auf zentrale Fragen der Unternehmensentwicklung zu finden. In diesem FRITZ Tipp wirst du fündig.
Inhalt
Entwicklungsphasen einer Organisation
Das Modell nach Friedrich Glasl geht von 4 Entwicklungsphasen einer Organisation aus: Pionierphase, Differenzierungsphase, Integrationsphase und Assoziationsphase. Klicke auf den Link und du springst direkt zur Beschreibung der jeweiligen Phase der Unternehmensenticklung, die dich am meisten interessiert.
Pionierphase
Das Unternehmen befindet sich in Aufbruchsstimmung, wie sie häufig in Start-Ups zu finden ist die schnell wachsen. Arbeitsteilung gibt es in der Pionierphase nicht, jeder macht alles. Die fachlichen Ansprechpartner sind unklar. Wer das Sagen hat ist aber sehr wohl klar. Häufig lassen sich ähnliche Strukturen wie in einer Familie wiederfinden. Der Gründer gleicht einer Vaterfigur und führt das Unternehmen durch Überzeugung.
Eine explizite Strategie gibt es nicht, eine implizite sehr wohl. Es gibt wenig Strukturen und Prozesse, was für Außenstehende schnell chaotisch wirkt. Positiv betrachtet könnte man in der Pionierphase auch von Organisation auf Zuruf sprechen. Stattdessen ist die Organisation ständig unter Strom. Geht nicht, gibt es nicht. Helden werden geboren, weil sie sich für das Unternehmen aufopfern. Laloux würde wohl von einer tribalen impulsiven Organisationen sprechen.
Differenzierungsphase
Der Übergang zur Arbeitsteilung und Spezialisierung wird offensichtlich (Taylorismus). Aufgrund des schnellen, aber auch unkontrollierten Wachstums muss mehr Ordnung in den Laden. Immer dort, wo es zur Arbeitsteilung kommt ist anschließend Koordination notwendig. Hierarchie ist das zentrale Instrument der Koordination in Organisationen.
Die typischen Organigramme werden in der Differenzierungsphase gezeichnet mit entsprechenden Stellenbeschreibungen. Regelkommunikation wird etabliert, die gehassten Jour fix werden eingeführt. Projektmanagement wird auf einmal zum Thema.
Beim Feierabendbier kann eben doch nicht mehr alles geregelt werden. Der Gründer muss nicht unbedingt Manager sein. Die Übergabe an ein professionelles Management könnte zur Diskussion stehen. Anschließend braucht es erstmals eine explizite Strategie, weil der Gründer nicht mehr alles vorgibt. Kontrolle und Steuerung erhalten erstmals in der Differenzierungsphase Stellenwert.
Schließlich braucht es formalisiert Mitarbeitergespräche, der Kontakt ist ja doch nicht mehr gut, wie er einmal war. Fachkompetente Mitarbeiter können sich nur über ungeliebte Führungsverantwortung nach oben arbeiten. Abteilungen werden zu Silos, was zu einer zunehmenden Beschäftigung mit sich selbst führt. Laloux würde wohl von einer traditionellen konformistischen Organisationen sprechen.
Integrationsphase
Weg vom Organigramm mehr hin zu Prozessen. Das Abteilungsdenken muss in der Integrationsphase überwunden werden, damit die Kundenorientierung wiederhergestellt werden kann. Soziale Fähigkeiten rücken in den Fokus, nachdem bisher nur die Fachlichkeit wichtig war. Teilweise könnte man von einem zurück zu den Wurzeln der Pionierphase sprechen. Aber auf Basis der Fortschritte der Differenzierungsphase.
Die Kunst dabei ist es selbst verantwortetes Arbeiten auf der Grundlage eines gemeinsamen Prozessbewusstseins zu ermöglichen. Dazu muss der Manager in der Integrationsphase zum Förderer seiner Mitarbeiter werden. Moderne Führungsstile wie z.B. supportive leadership oder transformationale Führung machen die Runde. Weg von Kontrolle und direkter Einflussnahme. Dadurch steigt aber zugleich die organisationale Komplexität. Man kann ja nicht mehr direkt durchgreifen. Laloux würde wohl von einer modernen leistungsorientierten Organisationen sprechen.
Assoziationsphase
Bisher habe ich in dieser Aufzählung die Assoziationsphase immer ausgelassen, weil ich mir unter der Metapher des Organisations-Biotops von Friedrich Glasl wenig vorstellen konnte. Vielleicht noch der Supply Chain Management Gedanke, bei dem Wertschöpfungsprozesse über die Unternehmensgrenzen hinaus gestaltet werden sollen. Das Unternehmen ist eingebettet in ein Netz von anderen Organisationen.
Inzwischen konnte jedoch Frederic Laloux konkrete Organisation aufzeigen, die der Assoziationsphase sehr nahekommen: Buurtzorg, FAVI, Morning Star, Sun Hydraulics. Laloux spricht in diesem Zusammenhang von der integralen, evolutionären Organisation. Diese Organisationen haben sogenannte evolutionäre Praktiken etabliert, die zumindest bis zur Integrationsphase kaum denkbar sind:
Moderne Praktiken | Evolutionäre Praktiken |
Pyramide | Selbstorganisierte Teams |
Top-Down-Entscheidung | Beratungsprozess |
Viele Besprechungen | Meeting-Praktiken |
Information ist Macht | Open Books |
Stellenzbezeichnungen | Flexible Rollen |
Supportfunktionen | Im Team integriert |
Fit Stellenbeschreibung | Fit Organisationssinn |
Weiterbildung vorgegeben | Weiterbildung freigestellt |
9 to 5 | Individuelle Zeitvereinbarung |
Individuelle Leistung | Teamleistung |
Individuelle Anreize | Selbst festgelegte Gehälter |
FAQ zu den 4 Entwicklungsphasen einer Organisation
- Können Entwicklungsphasen übersprungen werden?
Nein, leider müssen wie in der menschlichen Entwicklung auch alle Phasen der Organisationentwicklung durchschritten werden. Gras wächst auch nicht schneller, wenn man daran zieht. - Kann man in eine frühere Entwicklungsphase zurückfallen?
Ja, das ist durchaus möglich. Organisationen sind keine fixen Gebilde, die sich niemals ändern. Es ist ebenfalls möglich, dass eine Organisation zwischen zwei Entwicklungsphasen oszilliert, d.h. hin und her pendelt. - Ist immer das gesamte Unternehmen in der gleichen Entwicklungsphase?
Nein, vor allem in großen Unternehmen kann es durchaus sein, dass die Entwicklung in einer anderen Entwicklungsphase steckt, wie der Vertrieb oder die Produktion. - Gibt es eine optimale Entwicklungsphase für das Unternehmen?
Nein, es gibt keine optimale Entwicklungsphase für das Unternehmen. Meiner Meinung nach gibt es jedoch für jeden Mitarbeiter eine individuell optimale Entwicklungsphase. Jemand der sich mit Strukturen und klaren Abläufen wohl fühlt, wird es in einem Start-Up keine drei Monate aushalten. Dem Gründertyp werden die Tränen in die Augen schießen, wenn er die erste Prozessbeschreibung gesehen hat.
Kritik an den Entwicklungsphasen einer Organisation
Häfele kritisiert das Modell von Lievegoed und Glasl, da sich Organisation seiner Erfahrung nach nicht wie Pflanzen, Tier oder Menschen in einer zeitlichen Abfolge entwickeln. Das heißt eine Organisation kann sich nach der Gründung wie in der Pionierphase beschrieben entwickeln. Genauso gut könnte sich eine neu gegründete Organisation aber auch entlang der Merkmale der Integrationsphase entwickeln.
Stattdessen führt er das systemische Modell der Entwicklungskulturen in die Diskussion ein. Darin werden 4 Entwicklungskulturen unterschieden:
- Familienkultur: Die Familie dient als Metapher. Eigentümer sind die Eltern. alle anderen Mitarbeiter repräsentieren die Kinder.
- Dissoziationskultur: Mit Dissoziation oder Zersplitterung ist eine übertriebene Differenzierung gemeint.
- Organismuskultur: Im Gegensatz dazu wird die Organisation als lebendes System begriffen. Kerngedanken sind die Prinzipien der Organisationsentwicklung.
- Kultur vernetzter Organisationen: Rechtlich selbstständige Einheiten verfolgen ein gemeinsames Netzwerkziel, z.B. Communities und Projektgemeinschaften.
Ich sehe viele Ähnlichkeiten zu den Modellen von Glasl und Laloux, allerdings lehnt Häfele eine zeitlich zwingende Abfolge der Entwicklungskulturen ab. Ich für meinen Teil sehe das entspannter, solange es dem Ratsuchenden Orientierung bei den nächsten Schritten der Unternehmensentwicklung liefert.
Exkurs: Die integrale, evolutionäre Organisation nach Frederic Laloux
Auf dem Weg hin zur integralen, evolutionären Organisation unterscheidet Frederic Laloux ebenfalls 4 verschiedene Entwicklungsstufen einer Organisation, die sich stark an die Arbeiten von Wade und Wilber anlehnen. Die Parallelen zu Glasls Arbeit zeige ich jeweils auf.
1. Tribale impulsive Organisationen
Ständige Machtausübung durch den Anführer, um den Gehorsam der Untergegebenen zu sichern. Angst hält die Organisation zusammen. Sehr reaktiv, kurzfristiger Fokus. Gedeiht in chaotischen Umgebungen. Beispiele: Mafia, Straßengangs, Stammesmilizen. USP: Arbeitsteilung und Befehlsautorität. Glasl würde wohl von der Pionierphase einer Organisation sprechen.
2. Traditionelle konformistische Organisationen
Stark formalisierte Rollen innerhalb einer hierarchischen Pyramide, Anweisung und Kontrolle von oben nach unten (WAS und WIE), Stabilität ist der höchste Wert und wird durch exakte Prozesse gesichert, die Zukunft ist die Wiederholung der Vergangenheit. Beispiele: Kirche, Militär, Schulsystem. USP: Formale Rollen und wiederholbare Prozesse. Glasl würde wohl von der Differenzierungsphase einer Organisation sprechen.
3. Moderne leistungsorientierte Organisationen
Das Ziel ist, besser zu sein als die Konkurrenz, Profite zu erwirtschaften und zu expandieren. Durch Innovation kann man an der Spitze bleiben. Management durch Zielvorgaben. Anweisung und Kontrolle bei dem, WAS getan wird; Freiheit dabei, WIE es getan wird. Beispiele: Klassische Wirtschaftsunternehmen. USP: Innovation und Leistungsprinzip. Glasl würde wohl von der Integrationsphase einer Organisation sprechen.
4. Postmoderne pluralistische Organisationen
Innerhalb der klassischen Pyramidenstruktur, Fokus auf Kultur und Empowerment, um eine herausragende Motivation der Mitarbeiter zu erreichen. Beispiele: Kommunen, 68er Gegenbewegung, Sozialbereich. USP: Empowerment, Werteorientierte Kultur, Integration der Interessensgruppen. Glasl würde wohl auch in diesem Fall von der Integrationsphase eines Unternehmens sprechen, allerdings mit spezieller Ausprägung.
Das postmoderne Paradigma ist wirkungsvoll beim Einreißen alter Strukturen, aber oft weniger effektiv beim Formulieren praktikabler Alternativen (z.B. Alle Arbeiter besitzen das Unternehmen zu gleichen Teilen und entscheiden per Konsens).
Fazit – Entwicklungsphasen einer Organisation
Im Führungskreis Softwareentwicklung stellt sich die Frage, warum funktioniert SCRUM bei Unternehmen A, aber nicht bei Unternehmen B. Im Führungskreis Produktion dreht sich die Diskussion nach selbem Muster zum Thema Shopfloor-Management. In der Personalleiter-Runde ähnlich zum Thema New Work.
Hier hilft es einen Schritt zurückzumachen und den eigenen Entwicklungsstand des Unternehmens zu betrachten. In welcher Entwicklungsphase befindet sich mein Bereich? Wohin wollen wir uns entwickeln? In diesem Zusammenhang habe ich das Modell der 4 Entwicklungsphasen einer Organisation als äußerst hilfreich erlebt!
Dr. Patrick Fritz
Hallo Patrick, vielen Dank für Deine hilfreiche Zusammenfassung und Verbindung der oben genannten Konzepte. Prozessmanagement wird oft als Instrument Vor Allem der Integrationsphase gesehen. Ich sehe eine wichtige Rolle für Prozessmanagement in jeder Phase/Kultur. Hast Du dazu auch eine Meinung/einen Beitrag? Jedenfalls hat Dein Tip Beitrag hat Lust auf mehr deiner Tipps gemacht.
Hallo Stefan, vielen lieben Dank für deinen Kommentar!
Grundsätzlich kann ich deinen Überlegungen viel abgewinnen. Wenn ich das Buzzword „Digitalisierung“ als Automatisierung von einfachen oder komplizierten Problemen sehe (siehe dazu https://www.fritz.tips/cynefin-erklaert-agilitaet-und-digitalisierung-2020/), dann spielt Prozessmanagement immer eine Rolle. Wie will ich automatisieren, wenn ich den Prozess nicht erfasst habe?
Wenn ich jetzt noch die Brille der Entwicklungsphasen dazu nehme, gibt es sicherlich Phasen der Unternehmensentwicklung in denen Prozessmanagement mehr oder weniger wichtig ist. Welche Prozess sollten z.B. in der Pionierphase beschrieben werden? Es gibt noch keine Standards, sie müssen erst gefunden werden.
Erst in der Differenzierungsphase kommt dann häufig Standards/Audits/Prozesse in Spiel. Wir müssen einen Standard beschreiben und durchsetzen, um überhaupt wachsen zu können. In der Integrationsphase merke ich dann, mit Standards kann ich nicht jedes Problem lösen. Auf Basis der Errungenschaften der Differenzierung gilt es als Organisation weiter zu lernen.
Beste Grüße
Patrick
Als Mitarbeiter in einem Startup kann ich zumindest die Pionier- und Differenzierungsphase sehr gut wiedererkennen. Auch die Frage von Stefan Müller kann ich nur zu gut nachvollziehen. Eine meiner mehr oder weniger offiziellen Aufgaben ist es, die Entwicklung des Unternehmens positiv zu beeinflussen. Dazu gehört insbesondere die Implementierung des Prozessgedanken und für mich auch das Prozessmanagement.
Dieser und auch andere deiner Beiträge helfen mir wirklich weiter, wenn ich unsere aktuellen Schwierigkeiten in der Organisation aufdecken oder benennen möchte. Manchmal merken wir bei uns, dass etwas nicht läuft ohne zu wissen, woran es liegt.
Vielen Dank also für die tolle Plattform!
Gruß
Paul